Prävention und Gesundheitsförderung in der Geschichte der Medizin

Prävention und Gesundheitsförderung in der Geschichte der Medizin

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.04.2010 - 30.04.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Asli Cevahir, Düsseldorf

Im Rahmen des 29. Stuttgarter Fortbildungsseminars tagten Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen vom 28. bis zum 30. April 2010 am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart. Ihr Thema lautete „Prävention und Gesundheitsförderung in der Geschichte der Medizin“. Nach der Begrüßung durch den Institutsleiter Robert Jütte führte Susanne Hoffmann organisatorisch und thematisch in das Seminar ein.

Die erste Sektion „Eugenik/Hygiene“ (Moderation: Nicole Schweig) begann mit der Arbeitsgruppe von Jens Kolata, Henning Tümmers und Stefanie Westermann, die über „Biopolitische Prävention und ihre gesellschaftliche Akzeptanz in Westdeutschland (1945-1963)“ referierten. Einleitend erläuterte HENNING TÜMMERS die Entwicklung des nationalsozialistischen Erbgesundheitsgesetzes nach 1945. Kritisch stellte er die noch lange nationalsozialistisch geprägte Diskussion der Thematik dar: Seitens des Bildungsbürgertums, der Mediziner, Eugeniker und den beiden Kirchen seien minderheitenfeindliche Stellungnahmen nämlich weit verbreitet gewesen. Allerdings hätten sich die Formen der „Erbpflege“ nach 1945 geändert. Anstatt sterilisiert, sollten Personen, deren Fortpflanzung – nach Meinung der Verantwortlichen – der Gesellschaft „nur schaden würde“, nun durch strenge Asylierung „ausgeschaltet“ werden. STEFANIE WESTERMANN sprach im direkten Anschluss daran über die sogenannten „Wiederaufnahmeverfahren“, bei denen nationalsozialistische Erbgesundheitsurteile nach Kriegsende neu verhandelt wurden. Der Ausgang der Gerichtsverfahren, die umfangreiche Untersuchungen begleiteten, sollte zwar eigentlich offen sein, dennoch wurden die Urteile der NS-Justiz nur selten revidiert. Frauen seien dabei moralisch besonders streng überprüft worden, da man im Fall ihrer Refertilisierung uneheliche Kinder befürchtet habe. Um auch die Sicht der Klagenden darzustellen, zitierte Westermann in ihrem Vortrag aus den reichen Akten diverser Amtsgerichte. Abschließend griff JENS KOLATA die Frage der Entschädigung der Opfer in den 1950er-Jahren auf. Diente die Entschädigungsdebatte, wie von den zeitgenössischen Gutachtern angestrebt, tatsächlich als Schlüssel für ein neues Sterilisationsgesetz? Kolata verneinte dies, da sich seit Anfang der 1960er-Jahre auf mehreren gesellschaftlichen Ebenen Kritik und Widerspruch an der eugenisch motivierten Sterilisation formiert habe.

Der nächste Vortrag dieser ersten Sektion griff das Thema „Von der Fleckfieberbekämpfung zur Umwelt- und Städtehygiene, ein Hygienekonzept im „NS-Staat“ und der Bundesrepublik Deutschland“ auf. Die Erforschung des „Flecktyphus“ und verschiedener Impfstoffe habe zu den wichtigsten Aufgaben der wehrwissenschaftlichen Zweckforschung gehört, erläuterte die Referentin CHRISTINE WOLTERS. Die wichtigste präventive Maßnahme habe trotzdem in der Eliminierung von Krankheitsüberträgern (Ratten und Läuse) sowie in intensiver Hygiene gelegen. Wolters verfolgte sodann die Karrieren von Gerhard Rose, Rudolf Wohlrab und Fritz Steiniger, drei Protagonisten der deutschen Fleckfieberforschung, in die Zeit nach Ende der nationalsozialistischen Diktatur. Als nächstes stellte KARIN ENDERLE die Entwicklungslinie von der Rassenhygiene des späten 19. Jarhunderts zur heutigen pränatalen Diagnostik auf. Die Rassenhygiene interpretierte Enderle als staatlich gelenkte Primärprävention, deren Ziel bis heute nicht die Verhinderung von Krankheit, sondern von zukünftigen Patienten sei. In der anschließenden Diskussion standen aktuelle ethische Fragen der pränatalen Diagnostik im Vordergrund.

Das Thema der nächsten Sektion lautete „Magie“ (Moderation: Astrid Stölzle). NADINE METZGER referierte über „Medizinische und Magische Prävention von Alpträumen in der Antike“. Sie begann mit der Krankheit „Ephialtes“ (Albdruck), für deren Auftreten Magier den Dämon namens Ephialtes verantwortlich machten, Ärzte jedoch Verdauungsprobleme. Präventiv empfahlen beide diätetische Maßnahmen, doch Metzger konzentrierte sich im Folgenden auf den therapeutischen Einsatz der „Paeonie“. Ebenfalls zu dieser Sektion gehörte FRANK KRESSINGs Referat mit der Frage „Schamanismus als medizinische Prävention? Ein Fallbeispiel aus Ladakh“ (Nordwest-Indien). Kressing stellte eine spezifische Gruppe der ladakhischen Bevölkerung vor: die Schamanen. Er argumentierte, dass ihnen in Ladakh nicht nur Heilung und Divination zugeschrieben würden, sondern auch die Fähigkeit zur Individualprävention. Der Ethnologe Kressing stützte seine Ausführung auf empirische Untersuchungen, die er im Rahmen mehrerer Feldforschungsaufenthalte in den Jahren 1998-2001, samt zahlreicher narrativer Interviews und der Beobachtung schamanischer Rituale, ausgeführt hatte.

SEBASTIAN KNOLL-JUNG führte in die Sektion „Individuen“ mit einem Vortrag zur „Wirkung und Akzeptanz von Präventionsmaßnahmen und Strategien der Arbeiter zur Verhütung von Arbeitsunfällen 1885-1933“ ein (Moderation: Astrid Stölzle). An individuellen Strategien der Arbeiter nannte er den Arbeitsplatzwechsel, kritische Artikel in der Arbeiterpresse oder solidarische Hilfe von Familie, Kollegen und der Arbeiterbewegung. Andererseits hätten Gewöhnung, Verdrängen und Verharmlosung der Unfallgefahren eine effektive Prävention verhindert. Zudem seien die Maßnahmen der Unfallversicherung häufig nicht konsequent umgesetzt worden, vor allem wenn sie unternehmerischen Interessen entgegen gestanden hätten. Die Unfallprävention sei damals also im Wesentlichen gescheitert, resümierte Knoll-Jung. Es folgte der Vortrag von MATTHIAS LEANZA, der „Kants Schlafgewohnheiten“ und die „Kantsche Krankheitsprävention als Selbsttechnologie“ deutete. Zunächst erklärte er im Anschluss an Ulrich Bröckling, dass der Präventionsgedanke mit einer grundlegend negativen Zukunftsprojektion korrespondiere. Das 18. Jahrhundert benannte er als entscheidenden Entwicklungsschritt in Richtung eines modernen Präventionsregimes. Und zwar arbeitete Leanza anhand einiger Texte von Kant heraus, wie diese Prävention sich auf individuelle Selbstkontrolle von Körper und Gemüt richtete, um somit den negativen Zukunftserwartungen zu begegnen.

Die vierte Sektion „Kampagnen“ (Moderation: Tamara Scheer) startete mit KATSIARYNA LARYIONAVA zum Thema „Soziale Werbung in der UdSSR in den 1930er Jahren als Mittel der Gesundheitsförderung“. Die Zustände in der UdSSR (im Vortrag stand Russland im Vordergrund) blieben in Folge des Ersten Weltkrieges und des Bürgerkrieges in medizinischer und hygienischer Hinsicht prekär. Der Staat habe deshalb auf eine „kulturelle Revolution“ zur Schaffung eines „neuen Menschentypus“ gesetzt. Plakate hatten dabei, aufgrund des weitverbreiteten Analphabetismus, dem visuellen Wissenstransfer gedient. Diese Plakate seien deshalb, so Laryionava, an der Schnittstelle von Politik, Literatur und visueller Kunst angesiedelt gewesen. „Ohne Dings kein Bums“ hieß es dann plakativ im Vortrag von BEATE SCHAPPACH, die persuasive Strategien der Aids-Prävention von den 1980er-Jahren bis heute darstellte. Auch sie präsentierte visuelle Darstellungen in Form von Plakaten, Flyern, Broschüren und TV-Spots. Die Referentin erläuterte, wie Aids in medialen Präventionskampagnen im mitteleuropäischen Raum dargestellt wurde, welche Rolle dabei das Geschlecht spielte und welches Zielpublikum die einzelnen Kampagnen ansprachen. Daraufhin präsentierte BETTINA HITZER ihr Projekt „Körper-Angst im 20. Jahrhundert“, in dem sie kollektive Ängste vor Veränderungen des Körpers, ausgelöst insbesondere durch das Altern oder Krebs, untersucht. Sie fragte, ob Prävention die genannten Ängste eher stimuliert oder besänftigt haben. An Quellen zog Hitzer Diskussionen und Artikel in Fachzeitschriften, Leserbriefe und Archivmaterial von Gesundheitsministerien, Krankenkassen und Pharmafirmen heran.

Die letzte Sektion „Staat“ (Moderation: Susanne Hoffmann) begann mit einem großen zeitlichen Sprung. MICHAEL ROSENTRETER analysierte in seinem Vortrag die „Karolingische Renaissance und allgemeine Gesundheitsförderung“. Er hatte frühmittelalterliche Quellen aus der Regierungszeit Karls des Großen ausgewertet (unter anderem das so genannte Lorscher Arzneibuch). Rosentreter ging der Frage nach, ob man diese Quellen im Sinne einer systematischen Medizinalpolitik interpretieren könne, was er abschließend verneinte. Vielmehr seien die Quellen in Hinblick auf die Zwänge der damaligen Gesellschaft und den damit verbundenen Ressourcenmangel zu deuten, welche eine übergreifende „staatliche“ Gesundheitsfürsorge unmöglich gemacht hätten. Den letzten Vortrag des Seminars hielt ASLI CEVAHIR „Zur Geschichte der Gesundheitsvorsorge für die türkischen Gastarbeiterinnen in der BRD“. Sie stellte Präventionsmaßnahmen auf zwei Ebenen vor: der staatlichen und der individuellen. Dabei existierten, argumentierte Cevahir, Defizite vor allem in den Bereichen Arbeit, Wohnsituation, Ernährung, soziale und medizinische Dienste, die die damaligen Behörden und Betriebe zu verantworten hätten. Auf der individuellen Ebene stellte die Referentin dem zahlreiche religiös und kulturell motivierte Präventionspraktiken gegenüber, die die Gastarbeiterinnen angesichts der überwiegend psychischen und orthopädischen Diagnosen angewandt hatten.

Der dritte Tag des Seminars war der Abschlussdiskussion und Seminarkritik gewidmet. Die Mitglieder der Vorbereitungsgruppe leiteten die Abschlussdiskussion mit einem kurzen Impulsreferat ein. Auf die einzelnen Vorträge Bezug nehmend, arbeiteten sie dabei zentrale und übergreifende Aspekte des Themas „Prävention und Gesundheitsförderung in der Geschichte der Medizin“ heraus. NICOLE SCHWEIG griff den Begriff „Gesundheitsförderung“ auf. Er ziele auf die Frage ab, wie „Gesundheit“ hergestellt und erhalten werden könne. Dabei sei ein – im Vergleich zu Prävention – höheres Maß an individueller Selbstbestimmung charakteristisch. Tamara Scheer ging sodann auf den Begriff „Prävention“ ein. Im Verlauf des Seminars sei vor allem deutlich geworden, dass es bei Prävention darum ginge, ein in der Zukunft liegendes negativ bewertetes Ereignis zu beeinflussen. Astrid Stölzle rückte daraufhin die in der Präventionsgeschichte verwendeten Quellen in den Mittelpunkt. Gerade bei visuellen und normativen Quellen erschien ihr eine sorgfältige Quellenkritik und die Kontextualisierung der Quellen als eminent wichtig. Danach betonte SUSANNE HOFFMANN den normativen Gehalt der Kategorie „Gesundheit“ – und damit auch von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung. „Gesundheit“ sei in der Vergangenheit mal stärker kollektivistisch, dann wieder eher individuell verstanden worden. Ausgehend von dieser Beobachtung fragte Hoffmann schließlich, wie individuell Entscheidungsfreiheit überhaupt jemals sein könne und welche Rolle dabei ökonomische Machtpotentiale spielten. Am Ende der Veranstaltung fiel die Wahl des Themas für das nächstjährige Fortbildungsseminar auf Patienten in der Geschichte der Medizin.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Eugenik/Hygiene
Moderation: Nicole Schweig

Jens Kolata/Henning Tümmers/Stefanie Westermann: Biopolitische Prävention und ihre gesellschaftliche Akzeptanz in Westdeutschland (1945-1963).

Christine Wolters: Von der Fleckfieberbekämpfung zur Umwelt- und Städtehygiene: Ein Hygienekonzept im „NS-Staat“ und der Bundesrepublik Deutschland.

Karin Enderle: Alte und neue Eugenik – Von der Rassenhygiene bis zur Pränatalen Diagnostik.

Sektion 2: Magie
Moderation: Astrid Stölzle

Nadine Metzger: Medizinische und magische Prävention von Alpträumen in der Antike.

Frank Kressing: Schamanismus als medizinische Prävention? Ein Fallbeispiel aus Ladakh (Nordwest-Indien).

Sektion 3: Individuen
Moderation: Astrid Stölzle

Sebastian Knoll-Jung: Wirkung und Akzeptanz von Präventionsmaßnahmen und Strategien der Arbeiter zur Verhütung von Arbeitsunfällen 1885-1933.

Matthias Leanza: Kants Schlafgewohnheiten. Krankheitsprävention als Selbsttechnologie.

Sektion 4: Kampagnen
Moderation: Tamara Scheer

Katsiaryna Laryionava: „Soziale Werbung“ in der UdSSR in den 20er und 30er Jahren als Mittel der Gesundheitsförderung.

Beate Schappach: „Ohne Dings kein Bums“: Persuasive Strategien der Aids-Prävention seit den 1980er- Jahren bis heute.

Bettina Hitzer: Körper-Angst im 20. Jahrhundert.

Sektion 5: Staat
Moderation: Susanne Hoffmann

Michael Rosentreter: Karolingische Renaissance und allgemeine Gesundheitsfürsorge.

Asli Cevahir: Zur Geschichte der Gesundheitsvorsorge für die türkischen Gastarbeiterinnen in der BRD.